Gott ist größer - 19.4.2025

Jeden Morgen schauen wir in den Spiegel. Wir wollen uns sehen. Doch zwischen uns und unser Spiegelbild schiebt sich schnell etwas anderes. Es ist unser Idealbild, das dazwischentritt. Idealbilder werden aus der Vorstellung geboren, was wohl die anderen denken könnten, wie ich aussehen sollte. Dabei verlieren wir uns selbst aus dem Blick. Schlimmer noch, wir verlieren uns in ein Bild von uns, das es so niemals geben wird. Und dennoch opfern wir viel Energie und Lebensjahre diesem Bild nachzueifern.
Wie entlastend wäre es, wenn hinter unserem Spiegelbild jenes Bild hervorträte, wie Gott uns geschaffen hat. Es wäre ein Bild voller Güte. Ein Mensch würde sichtbar, der sich gesehen und geachtet weiß. Dies wäre kein Idealbild. Es wäre ein Realbild, das selbst dann noch gilt, wenn die Welt sich dagegen wendet. An seinen Wangen trüge dieses Gesicht noch Striemen. Ihm wurde ins Gesicht geschlagen. An seiner Stirn klebte noch Spei. Sie haben ihm ins Gesicht gespuckt, eine der gröbsten Formen, einem Menschen seine Würde zu nehmen. Genau in diesem Menschen, der so von der Welt verachtet wird, erkennt Gott sein Ebenbild. In ihm ist Gott.
Wir können einander alles nehmen. Aber die innere Würde kann kein Mensch dem anderen nehmen. Sie bleibt ewiglich. Ostern beschreibt diese überraschende Erkenntnis. Menschliche Urteile über andere haben nie das letzte Wort. Gott ist größer.
Jedes menschliche Antlitz ist Gott heilig. Darum: Nehmt einander an! Und achtet all Morgen frisch und neu Euer Bild im Spiegel. Jedes Gesicht bezeugt eine Lebensgeschichte. Sie will erzählt werden. Sie erzählt von Rettung in Not und davon, wo wir bewahrt wurden. Statt Selbstoptimierung trainieren wir doch lieber unsere Erzählfreude. Jedes Leben ist ein Mosaikstein in Gottes großem Lebensbild von uns Menschen. Unsere Lebensgeschichte will erzählt werden. Ostern ist Erzählzeit! Überrascht einander mit Euren Lebensgeschichten.
Tilman Kingreen, Pastor in Hannover und Wunstorf