Im Oktober 2014 sind die Mitglieder des Kirchenkreiskonventes (Pastorinnen und Pastoren, Diakoninnen und Diakone und der Sozialarbeiter) zu einer Studienfahrt nach Istanbul gereist. Neben der Stärkung des kollegialen Miteinanders ging es dabei um die Situation der Christen in einem muslimisch geprägten Land.
Auf dem Programm standen so neben der Besichtigung einiger Highlights der Metropole Gespräche mit Vertretern von Kirche, Politik und einer Moschee.
Gespräch mit Stadtrat Ramiz Polat (Stadtteil Fatih)
Die historische Altstadt von Fatih liegt zwischen dem Viertel Eminönü im Osten und der Theodosianischen Landmauer im Westen. Getrennt werden die Stadtteile heute vom Atatürk Bulvarı, einer Schnellstraße, die über die Atatürk-Brücke eine zweite Verbindung zum Norden der Stadt herstellt. Der Atatürk Bulvarı wird überspannt vom im 4. Jahrhundert erbauten Valens-Aquädukt (Bozdoğan Kemeri), der Fatih und Eminönü verbindet. Fatih ist seit Sultan Mehmed dem Eroberer berühmt für seine Medresen und Moscheen und war ein Bezirk der Gelehrten und Dichter.
Der Donnerstag endet mit einem Gespräch mit einem Lokalpolitiker, Ramiz Polat zu dem uns Mustafa Erkan aus Neustadt den Kontakt vermittelt hat. Begleitet wird er von Frau Nilüfer Türütgen (Beraterin des Bürgermeisters), die zu allen von uns angesprochenen Themen spontan die Fakten und Zahlen erläutern kann. Sie beeindruckt durch ihre Sachkompetenz! Wir werden zu einem leckeren Abendessen am Meeresufer eingeladen. Danach nehmen sich die beiden Vertreter viel Zeit für unsere Fragen.
Fatih ist ein Stadtteil von Istanbul und umfasst den ältesten Kern der Stadt. Heute wohnen in diesem Bereich rund 460000 Einwohner. Der Stadtteil hat - wie alle anderen Statteile - ein eigenes Parlament und einen eigenen Bürgermeister, Mustafa Debir. 37 Stadtverordnete sind für die Leitung dieses „Ortsrats“ zuständig. 25 davon gehören seit der Wahl im Sommer 2014 der Regierungspartei an, 12 sind Sozialdemokraten. Die Vertreter der Ortsräte bilden gleichzeitig das Parlament der Großstadt. Ihre Zahl richtet sich nach der Bewohnerzahl der Stadtbezirke. Sie sind wie auch unsere Ortsräte ehrenamtlich tätig.
Ein großer Teil der Aufgaben, die in Deutschland kommunal gelöst werden, sind in der Türkei der Zentralregierung in Ankara vorbehalten, etwa Schule und Polizei.
Der Vertreter berichtet uns von den Erfolgen der AKP in den letzen beiden Amtsperioden. Kurz vor unserem Besuch sind sie mit der beschriebenen deutlichen Mehrheit wieder gewählt worden. So wurden z.B. die Grünflächen in den vergangenen 13 Jahren versiebenfacht. Die Stadt hat verschiedene der renovierungsbedürftigen (oder nicht erdbebensicheren) Häuser aufgekauft und sanieren lassen. Nun werden sie mit Gewinn selber betrieben. So ist z.B. das Restaurant, in dem wir sitzen im Besitz der Stadt. Direkt am Bosporus-Ufer gelegen, werden Gerichte knapp über dem Selbstkostenpreis angeboten, so dass auch für einfache die Bürger Gelegenheit ist, in exzellenter Lage gut essen zu gehen. Im Keller ist ein schöner Trauungsraum entstanden. Uns erscheint er riesig, aber offensichtlich werden Trauungen hier größer gefeiert als bei uns. In den 13 Jahren konnten 4700 der denkmalgeschützten Häuser im Stadtteil restauriert werden.
Im ganzen Stadtteil gibt es kein Seniorenheim. Der Familienzusammenhalt sei so gut, dass dafür kein Bedarf bestehe. Dafür gibt es verschiedene Unterstützungsangebote für die Pflege in den Wohnungen. In Fatih werde z.B. an 2500 Personen Essen auf Rädern ausgeliefert. Diese Zahl erscheint uns angesichts der Größe des Bezirks allerdings recht niedrig.
Es hat in der Vergangenheit eine deutliche Wanderungsbewegung aus Anatolien in Richtung der Großstadt Istanbul gegeben. So sind zuerst die Väter gekommen, um zu arbeiten. Diese hätten dann die Familien nachgezogen. Im Alter würden dann die Eltern in die Heimat zurückkehren, die Kinder aber im städtischen Kontext bleiben. Erst allmählich gelingt es der Regierung die Wanderung auch in die anderen türkischen Großstädte zu leiten.
Auch von den syrischen Flüchtlingen wandern zurzeit viele nach Fatih und in die anderen armen Bezirke Istanbuls. Sie verursachen mittlerweile erhebliche soziale Spannungen. Im Straßenbild fallen sie durch die z.T. organisierte Bettelei der Kinder auf. Diese wurde bislang aus humanitären Gründen geduldet, nun soll aber doch durch Verbote gegengesteuert werden. Ein großer Teil der in Fatih lebenden Syrer seien relativ wohlhabend. (In anderen Gesprächen haben wir anderes gehört: Die Syrer arbeiten als Tagelöhner für rund zwei Euro und ruinieren damit den bisherigen Tageslohn, der sich bei rund acht Euro eingependelt hatte. Große Teile der türkischen Familien verlieren dadurch gerade ihr notdürftiges Einkommen). Zur Integration der Flüchtlinge werden kostenlose Sprachkurse, medizinische Versorgung und kostenlose Teilnahme am Schulunterricht angeboten.
Es besteht ein reger Austausch zwischen Fatih und der Partnerstadt Wiesbaden. Auf Nachfrage wird deutlich, dass im Wesentlichen deutsche Delegationen nach Istanbul reisen. Gegenbesuche sind recht selten.
Eine große Herausforderung für die Stadtverwaltung ist die Infrastruktur. Der tägliche Verkehrskollaps hindert eine weitere wirtschaftliche Stabilisierung. So fehlen vor allem in den Wohnbereichen Parkplätze für die Anwohner. Parkgaragen unter den Häusern sind kaum zu realisieren, da unter dem gesamten Stadtgebiet die Vergangenheit ruht und vor Grabungen erst umfangreiche archäologische Sicherungen vorgenommen werden müssten. Auch die Sicherung der Gebäude vor zu erwartenden Erdbeben (in den kommenden 10-15 Jahren wird mindestens ein Erdbeben der Stufe 7 erwartet) ist eine große Herausforderung. Per Gesetz sind alle Hausbesitzer dazu verpflichtet. Viele können das aber finanziell nicht tragen. (Wie wir aus anderen Quellen wissen, hat das teilweise zu Enteignungen und Grundstücksspekulationen geführt).
Bereits in Angriff genommen wurde die Erstellung eines Registers aller historischen Gebäude (auch der jetzt nicht sichtbaren), um die zukünftige Stadtplanung zu erleichtern. Dabei sind nach bisherigem Stand allein in Fatih rund 10000 Objekte zu erfassen.
In Istanbul wird die Arbeitslosigkeit auf rund 10% geschätzt. In Fatih soll es sogar eher noch weniger geben. Die Stadtverwaltung betreibt parallel zur offiziellen Arbeitsvermittlung (von Ankara gesteuert) eine eigene Arbeitsvermittlung, die stärker die Qualifikation der Arbeitssuchenden berücksichtigt. Als Arbeitslosengeld werden 2/3 des Mindestlohns ausgezahlt.
Zur Überwindung des Verkehrschaos wird entlang der alten Stadtmauer ein Rad- und Fußweg ausgebaut, von dem aus man in wenigen Minuten alle Punkte der Altstadt erreichen kann. Auch unser Gesprächspartner und der Bürgermeister sind begeisterte Fahrradfahrer (auch wenn das Rathaus zurzeit wegen der Baustellen mit dem Fahrrad nicht erreichbar ist). Auch dass zum Bau dieses Radwegs ein großer Teil des osmanischen Gärten eingeebnet werden mussten, erfahre ich erst später aus dem Internet.
Gegen die Gewalt gegen Frauen wurden regionale ehrenamtliche Beratungsstellen in den Vierteln eingerichtet. Ziel der Beratungen ist es, die Familienstruktur wieder herzustellen. In der Familie seien die Frauen am besten geschützt. (Dieser Illusion können wir aus unserer Beratungsarbeit nicht folgen.)
Zum Abschluss erhält Superintendent Michael Hagen von Nilüfer Türütgen einen Gedenkteller und revanchiert sich mit Neustädter Pralinen.
Thomas Gleitz
Gespräch mit einem der Imame der Sultan-Ahmet-Moschee (Blaue Moschee)
Die beeindruckende Größe und Erhabenheit der Kuppel der Blauen Moschee, fand ihren Gegensatz im Büro des Imam, in dem sich zum interreligiösen Austausch etwa 37 Personen (die Frauen mit bedecktem Haupthaar) versammelten.
Die Reisegruppe verteilte sich auf allem, was sich zum Sitzen eignete - einschließlich des Fußbodens – und füllte so das Büro komplett aus.
Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und der Imam „Isaak“ beschrieb zunächst routiniert die Voraussetzungen für seine Tätigkeit.
Als Imam muss er den Koran auswendig kennen und er ermunterte seine Gäste direkt dazu, ihn zu prüfen. Ein Imam ist kein „Geistlicher“ sondern ein Lehrer und Beamter des (türkischen) Staates.
Er leitet die ritualisierten Gebete (fünfmal am Tag), die von Gesten und Bewegungen begleitet werden und sehr stark von Wiederholungen geprägt sind. Manche Gebetsformeln werden mehr als 30mal nacheinander gesprochen. Frauen und Männer beten getrennt und in der blauen Moschee sind den Frauen vor allem die Emporen vorbehalten. Sie dürfen aber auch zu Hause beten, wenn sie die Kinder und den Haushalt versorgen müssen.
Der Imam unterrichtet außerdem an Koranschulen und kümmert sich um Besuchergruppen.
Islam bedeutet „Unterwerfung“ unter Gottes Willen, der im Koran durch den Propheten Mohammed wortwörtlich festgehalten wurde. Darum sollte der Koran möglichst in arabischer Sprache gelesen werden, weil jede Übersetzung auch Veränderung bedeutet.
Die Unterschiede zum Christentum deuten sich schon im Grundbekenntnis des Koran an: Allah ist groß und Allah ist einer.
Der Imam drückt es so aus, dass Gott keine „Familie“ hat. Zwar wird Jesus im Koran als Prophet gesehen, aber der trinitarische Gedanke (Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist) ist im Koran undenkbar.
Danach gefragt, ob Christen für ihn, bzw. aus Sicht der Muslime „Ungläubige“ seien, sagte der Imam: Gott hat den Menschen den Koran gegeben und jeder, der danach lebt, kann ins „Paradies“ gelangen. Und jeder kann immer noch umkehren und sich zum Islam bekennen...
Auf die Frage nach seiner Beurteilung sogenannter „Ehrenmorde“, weist der Imam darauf hin, dass der Koran die Gegenwehr erlaubt, wenn das eigene Leben oder das eines anderen, mir nahestehenden Menschen bedroht wird. Dann darf man sich wehren und ggf. auch dem anderen das Leben nehmen.
Es wäre sicher lohnend gewesen, manche Themen zu vertiefen, aber dafür fehlte die Zeit.
Astrid Hoidis
Minderheiten in der Türkei
„Widerstehen Sie der Islamophobie in Deutschland!“ Mit diesen mahnenden Bitte entließ uns Dr. Ulrike Dufner, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, nach ihrem bewegenden Vortrag zur Situation von Minderheiten in der Türkei. 20% der türkischen Bevölkerung sind Kurden. Unter dem Einfluss der herrschenden AKP distanziert sich die sunitisch-muslimische Mehrheit immer stärker von den Kurden im eigenen Land. „Sie werden zum Feind der Nation hochstilisiert“, analysiert Frau Dufner die politische Lage. „Nicht der Kampf gegen die IS steht im Interesse der Politik, sondern die Ausgrenzung der Kurden.“ Eine „Kurdophobie“ habe eingesetzt und werde politisch angeheizt. Die Gefahr, die von den Muslim-Brüder und der IS ausgeht, werde hingegen relativiert. So finde der Nato-Vertragspartner USA in der Türkei gegenwärtig wenig Unterstützung, die Nutzung von Militärbasen in der Türkei zum Kampf gegen IS werde ihnen verweigert und etwa die Schaffung eines Korridors, um Zugang zum stark umkämpften Kobane zu erlangen, strikt verworfen. Vom Schicksal traumatisierter Kinder, die vor den IS-Milizen aus Syrien geflohen sind, berichtet Frau Dufner aus eigener Anschauung. „An sich habe ich immer guten Zugang zu Kindern gehabt. Doch als ich in der letzten Woche bei den Flüchtlingen an der Grenze zu Syrien war, liefen die Kinder vor mir weg. Das habe ich noch nie erlebt. Ich war so erschrocken, wie tief ihre Angst ist vor jedem, der auf sie zukommt.“ `Ein Zelt für die Jesiden´ nennt sich die Kampagne, die Frau Dufner startet, um vor Einbruch des Winters beheizte Zelte für die Flüchtlingsströme bereitzuhalten. „Die Türkei macht ihre Grenzen auf und lässt die Flüchtlinge rein, überlässt sie dann aber ganz ihrem Schicksal.“ So ist auch bereits das Stadtbild in Fatih, dem Stadtteil von Istanbul, der als Migrationsmagnet gilt, geprägt vom Bild bettelnder kleiner Kinder, die als Flüchtlinge aus Syrien ihr Überleben zu sichern versuchen. Für Saisonarbeiten auf dem Feld erhält ein türkischer Arbeiter 20 Lira am Tag, syrische Flüchtlinge verdingen sich, um zu überleben, für 8 Lira am Tag. „Arm steht gegen Arm. Die sozialen Spannungen steigen.“, erklärt Frau Dufner die Folgen der Flüchtlingswelle und sie empfiehlt eindringlich, den politischen Dialog mit der Türkei gerade in der jetzigen Zeit nicht abreißen zu lassen. „Die Türkei fühlt sich als Opfer. Wird sie international ausgegrenzt, verstärkt sich dieses Gefühl.“ Und im Blick auf die restriktive Asylpolitik in Europa fühlt sich Frau Dufner gegenüber türkischen Vertretern sowieso oftmals in Erklärungsnot. Denn die Türkei gibt den IS-Flüchtlinge immerhin Zuflucht. Wir haben nach dem Gespräch den Eindruck, in Frau Dufner einer klugen und engagierten Kämpferin für die Rechte von Minderheiten begegnet zu sein. Sie lässt sich vom Leid der Menschen berühren. Sie deckt Leid auf und sie macht auch uns damit zu Wissenden. Und sie zeigt Handlungsmöglichkeiten auf, weiß um die Grenzen von Hilfsmaßnahmen und macht an ihrem eigenen Verhalten aber auch deutlich, wie Spenden als letzter Protest gegen die Übermacht von Gewalt und Krieg alternativlos sind und zum Zeichen der Hoffnung werden können. 600,-€ kostet ein Zelt für die Jesiden. Damit können einige zumindest den nächsten Winter überstehen.
Tilman Kingreen