Einer der für mich prägendsten Sätze der Bibel ist: Fürchtet euch nicht!
Furcht hat zwei Seiten: Die eine führt zu Lähmung, die andere zu Ungerechtigkeit. Wir sehen es in der Gesellschaft immer wieder, dass Menschen aus Furcht menschenverachtende Dinge sagen und manchmal auch tun: Sie treten nach unten gegen Schwächere, wenn sie sich selbst bedroht fühlen. Dabei vergessen sie, dass die Ungerechtigkeit nicht von denen ausgeht, denen es noch schlechter geht als ihnen selbst. Dies zeigt sich immer wieder in den verschiedenen „-Ismen“, wie beispielweise Rassismus, Klassismus (Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position), Sexismus und vielen mehr. Jeder einzige dieser „-Ismen“ ist als eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu verurteilen. Beobachten und reflektieren Sie einmal, wie diese Ihnen im Alltag begegnen – sowohl gegen Sie gerichtet als auch von Ihnen selbst ausgehend. Sie werden fündig.
Die Furcht kann eine Erklärung sein, aber nie eine Entschuldigung. Sie ist keine Entschuldigung für Beleidigungen und Attacken von Männern gegen Frauen und queere Menschen, nur weil sie sich fürchten, dass ihre Männlichkeit infrage gestellt werden könnte. Sie ist keine Entschuldigung für die systematische Benachteiligung von Kindern aus armen Familien, weil angeblich jeder Mensch seines (oder ihres) eigenen Glückes Schmieds ist. Und sie kann, darf und wird niemals eine Entschuldigung für Rassismus sein. Dabei ist egal, ob er sich plump in rechten Parolen oder implizit in Fragen „missglückter Integration“ oder des menschenverachtenden Wortes „Asyltourismus“ äußert. Furcht vor einem Arbeitsplatz- oder Statusverlust ist keine Entschuldigung.
Gleichzeitig fürchten wir uns davor, uns selbst einzugestehen, dass wir in einer rassistischen, klassistischen, sexistischen – kurz in einer zutiefst ungerechten – Gesellschaft leben, von der wir ein Teil sind. Und somit auch einen Teil der Schuld tragen.
Furcht ist keine gute Ratgeberin. Das wussten auch die Engel. Vielleicht sollten wir anfangen, danach zu handeln.
Jörg Mecke, Prädikant im Kirchenkreis